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Was tun?

Differenzieren wäre ein Anfang

 

„Wenn die Weltgeschichte nicht so beschissen wäre, wäre es eine Lust zu leben“, hat Hannah Arendt 1952 in einem Brief geschrieben. Heute, 70 Jahre später, sieht es nicht wirklich besser aus! Wie mag es jungen Menschen ergehen, die, erdrückt von Klimawandel und Corona-Einschränkungen, nun auch noch den Krieg in der Ukraine während der sogenannten schönsten Jahre ihres Lebens erleben?! In diesen Tagen nicht in tiefe Depression zu verfallen, fällt schwer. Und so sind wir alle froh, beim Packen von Hilfspaketen, beim Spenden oder der Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine wenigstens etwas tun zu können. Und uns im gemeinschaftlichen Entsetzen über Putin und seine Truppen endlich wieder in einer Sache vollkommen einig zu sein.

Die meisten Menschen können sehr wohl unterscheiden zwischen Putin und dem russischen Volk. Doch immer wieder liest man, dass die Wut auf den Ex-KGBler und die russische Nomenklatura hier lebende Menschen mit russischen Wurzeln trifft, die mit Putins Politik so viel am Hut haben wie die meisten von uns: nichts. Da verweigert ein Restaurantbesitzer russischstämmigen Menschen den Besuch seines Lokals, dort wird eine junge russische Gymnastin für Putins Taten mitverantwortlich gemacht. Für mich ist das nicht nur angesichts unserer historischen Schuld schwer erträglich. 1983/84 war ich während meines Russischstudiums fünf Monate lang in Moskau. Und wenngleich der Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland zur nationalen Identität Russlands gehört, so habe ich dort nie auch nur einen Hauch von Anfeindung erlebt wie viele sie von Auslandsreisen in westeuropäische Länder kennen. Stattdessen hat uns Studenten aus dem Westen die Großherzigkeit, die Gastfreundschaft und die Versöhnungskultur der sowjetischen Bevölkerung überrascht und auch beschämt.

Egal ob Russen, Ukrainer, Armenier oder Georgier: Alle, die wir kennenlernten, haben unterschieden zwischen den Menschen und der Macht. Das sollten auch wir schaffen. „Was tun?“ Jedem Slawisten ist zumindest der Titel des Romans von Nikolaj Tschernyschewskij bekannt. An Antworten auf diese Frage werden wir wohl oder übel auch in Zukunft arbeiten müssen. Jeder Einzelne ist gefragt, wenn es darum geht, Brücken zu bauen. Hoffentlich auch wieder Brücken Richtung Russland, denn kein Mensch mit Verstand kann von „den Russen“ als Kriegstreibern sprechen. „Unser Glück ist unmöglich ohne das Glück der anderen“, hat Tschernyschewskij in „Was tun?“ geschrieben. Ist es vermessen, darauf zu hoffen, dass die Menschheit das endlich versteht?

Barbara Bross-Winkler

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